Das wahre Land oder: Orpheus, erster Gesang zwischen Schwarzbrot und Scholle

Schau noch einmal dorthin zurück, woher du kommst, Orpheus, schau dort hin, ins wahre Land. Schau nicht die vom Januar- Regen verschlammten Wege, die ausgedünnten Hecken und das graue Gras. Erinnere dich, wie würzig es gerochen hat. Und was es dir gegeben hat, so zwischen Schwarzbrot und Scholle. Du konntest es mit Händen halten, und es war schwer und fettig, es tropfte vor Kraft. Wohin du träumst, wenn du so schaust, wohin du wohl träumst! In eine Zeit, da floss noch der Strom durchs Land.

Alle deine Gesänge beginnen in diesem Land. Sie alle betrauern den Verlust, sie zelebrieren die Wiedererweckung, wie Baals- Krieger, wie Opfer- Priester, wie zur Gewalt bereite Zwerge. Du aber stehst im Atemschlag, aus dem dir Flügel wachsen, ein aus dem Land sich erhebender Gesang. Du, Orpheus, hier heraus bist du geschlüpft, die Larve aus dem Kokon von Erde und Milch. Das gab dir das Rüstzeug, das gab dir das Eisen, das gab dir den Atem, der schwillt über Zeitalter hinweg. Du kamst und griffst nach dem Schwert, du schmiedetest Gedanken. Da floss noch der Strom durch dich.

Dann aber verfinsterte sich die Sonne, Du wurdest unsichtbar, das Auge des Gottes verflog zu den Fixsternen, und die Menschen hatten keine Stimmen mehr. Du bautest Dämme für den Strom, du hieltest, was zu greifen war, aber es zerrann zwischen den Fingern, es war Fraß für die Würmer. Die falschen Töne, die den Strom nicht mehr kannten, türmten sich. Dann gingen sie mit Hacken aufeinander los und schossen Satelliten ins All. Dann aber verfinsterte sich dein Gesicht, und der Gesang fand dich nicht mehr. Das war, als der Strom im Untergrund floss, in der Unterwelt, in der jeder den Illusionen folgt, die er selbst erschaffen hat.

Das Land gab dir dauernd Zeichen. Alles, was geworden ist, ist Zeichen, nicht wahr, doch es ist niemand da, der es zu lesen vermag.* Der Lärm ist zu groß, um irgend etwas zu vernehmen. Das Tönen der Stille ist verklungen.

Orpheus, der einst von allem sang, von nichts so schön wie von den Kristallen**. Es ist alles aus dem Schmerz geschaffen, doch sie sind es am klarsten. Auch in ihnen spricht das Land zu dir, Orpheus, steinerne Hingabe, zu sich selbst gekommener Grund. Nimm den Kitsch aus deinem Kopf, die Cluster, Muster und Strukturen, und höre die Dinge neu.*** Vielleicht findest du dann deinen Gesang.****

Schau noch einmal auf das Land, Orpheus. Noch immer strömt es. Es ist lange her, dass du am Wasser standest und ich darin schautest. Du standest da, und dachtest, das sei ewig, das Rauschen, Sprechen und das perlende Blau, das deine Hand umfloss. Du bautest damit Pyramiden, schriebst Bücher, gründetest Religionen. Es ist lange her, aber du hast gefühlt, wie du gebildet warst aus dem Fliessen des Wassers, von den Knochen bis zu jeder Unebenheit in deiner Haut- wie Borke ausgestülpt aus dem Fliessen des Stroms. Du bist gewachsen zwischen Schwarzbrot und Scholle. Du bist ein Ding, das das Land aus sich gepresst hat, eine schwere Geburt, ein Fremdling, ein Ding. Ein Etwas, was noch mitklang und schwang im Strömen und Wachsen, aber sich zu sich selbst heraus schälte und zugleich verlor: Du bist nichts, Orpheus.*****

Und nun, schwinge mit. Du, der du nichts bist, schwinge und lerne. Du bist immer Beginn. Schau noch einmal zurück, Orpheus. Aber nicht zu lang.******


* Außer den Erwählten, außer den Erwählten!
** Er hat es vergessen, leider, er hat alles vergessen!
*** Ein Stilbruch, aber was sein muss, muss sein!
**** Vielleicht.
***** Bitte nicht als Anleitung zur Weinerlichkeit verstehen, bitte!
****** Nicht zu lang, was wir hiermit befolgen.

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